GI-Radar 297: Digitalisierung des Notrufs

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

in den Kurzmitteilungen finden Sie dieses Mal unter anderem Erfahrungsberichte von Eltern zur Mediennutzung ihrer Kinder. Das Thema im Fokus beschäftigt sich mit der Digitalisierung des Notrufs. Nach der Wahl ist vor der Wahl – zumindest bei der GI, wie Sie den GI-Mitteilungen entnehmen können. Unser Fundstück dreht sich um existenzielle Fragen: was macht die Informatik aus und wie stellen wir sicher, dass wir die richtigen Dinge tun?

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe!

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Mediennutzung bei Kindern + Auswirkungen sozialer Netzwerke + IT-Blackout + Software-Nachhaltigkeit + Lösegeldforderungen + Digitaler Notruf + GI-Jahresbericht + Wahl zu Vorstand und Präsidium + LNI in der Digitalen Bibliothek + neues Informatik Spektrum + was macht Informatik aus?

KURZMITTEILUNGEN

Digitale Bildung und Mediennutzung: was Eltern umtreibt (ZEIT). Kinder und Jugendliche sollen den souveränen Umgang mit IT-Technologie lernen. Aber wo und wie? Wie Eltern mit den Wünschen ihrer Kinder nach der Mediennutzung umgehen, hat die ZEIT zusammengetragen.  weiterlesen

Nutzung der sozialen Netzwerke und Einfluss auf Kinder und Jugendliche: was die Wissenschaft dazu sagt (FAZ). Dass soziale Medien rege genutzt werden, ist unbestritten. Dass sie teilweise großen Einfluss haben und auch massiven Schaden anrichten können, ebenfalls. Wie genau das aussieht und inwieweit Kinder und Jugendliche negativ beeinflusst und in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt werden, versuchen verschiedene Institutionen herauszufinden. Schwierig ist dies jedoch, da entsprechende Aussagen notwendigerweise ausschließlich auf Selbsteinschätzungen beruhen und die Unternehmen nur teilweise kooperieren.  weiterlesen

Fachleute warnen vor IT-Blackout (Deutschlandfunk). In den letzten eineinhalb Jahren hat die Digitalisierung gezwungenermaßen rasant an Fahrt aufgenommen. Gerade im Homeoffice und im Gesundheitssystem lauern hier jedoch bei mangelhafter Umsetzung große Gefahren. Sicherheitsfachleute zeigen auf, wie Systeme gebaut und validiert werden müssen, um weniger angreifbar zu sein.  weiterlesen

Nachhaltigkeit bei Software: Quellcode nach Ablauf des Supports freigeben (Netzpolitik). Nachhaltigkeit ist in aller Munde, aber an Software denkt daran wahrscheinlich nahezu niemand. Bei näherer Betrachtung ist allerdings klar, dass die Freigabe von kommerzieller Software nach einer bestimmten Zeit tatsächlich nachhaltig wirkt. Denn häufig fühlen wir uns nach dem Ende des Supports für eine bestimmte Softwareversion durchaus gezwungen, auf ein neues Gerät umzusatteln, um die Softwaresicherheit zu gewährleisten. Das müsste nicht sein.  weiterlesen

Lösegeld für die Freigabe von Daten vervielfacht (Golem). Im ersten Halbjahr 2021 wurden in den USA bereits mehr sogenannte „Ransomware-Zahlungen“ nach IT-Attacken getätigt als im gesamten vergangenen Jahr. Die Regierung weist darauf hin, dass bereits die Zahlung von Lösegeld einen Straftatbestand darstellen könnte.  weiterlesen

THEMA IM FOKUS

„911 – What is your emergency? Für viele von uns ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir im Notfall telefonisch Hilfe anfordern können. Doch nicht alle Menschen haben die Möglichkeit, sich verbal verständigen zu können. Die staatliche Notruf-App „nora“ soll hierbei Abhilfe schaffen und es ermöglichen, per Textchat die Notrufzentrale zu informieren und den eigenen Standort sowie persönliche und medizinische Angaben zu übertragen (nora-notruf.de). Die vom nordrhein-westfälischen Innenministerium in Auftrag gegebene und seit dem 1. Oktober 2021 bundesweit (mit Ausnahme von Berlin) verfügbare App musste jedoch zwei Tage nach offiziellem Start bereits wieder aus den App-Stores entfernt werden (netzpolitik.org). Grund hierfür waren durch den Ausfall der Notrufnummern zu hohe Download-Zahlen, welche die Infrastruktur der Anwendung in die Knie gezwungen hatten. Nachdem bereits 2020 zum bundesweiten Warntag die Warn-App „NINA“ nicht korrekt funktionierte (sueddeutsche.de), scheint es bei Hilfssoftware des Staates noch massiven Ausbaubedarf zu geben.

Doch auf welche Aspekte muss bei einer solchen digitalen Notruf-App zusätzlich zur robusten Infrastruktur noch geachtet werden und welche Beispiele für funktionierende Notruf-Apps gibt es?

Verschiedene Mobilgerätehersteller bieten etwa die Möglichkeit, einen Notruf mit Standort und Bild sowie Audiodateien in einstellbarem Umfang zu versenden (stuttgarter-nachrichten.de). Notfall-Apps wie nora, instantHelp (normaler oder stiller Notruf, instant-help.de), NotrufPlus (barrierefreier Notruf, notruf.plus), echoSOS (international, echosos.com) oder TESS (Relay-Dienst mit Notruf-Option, tess-relay-dienste.de) sind weitere Beispiele für den Mehrwert der Digitalisierung.

Positiv fällt an dieser Stelle vor allem NotrufPlus auf. Anders als bei den anderen genannten Apps steht hier das Hauptziel der Barrierefreiheit im Fokus. Somit bietet die App nicht nur zusätzliche Funktionen für Menschen mit Sprach- oder Hörbehinderung wie die Möglichkeit von Videocalls, sondern auch Sprachausgabe und Sprachsteuerung für Menschen mit visuellen Einschränkungen.

Videocalls können Sprach- oder Hörbehinderten die Möglichkeit bieten, in ihrer Muttersprache, der Gebärdensprache, mittels eines Dolmetschers mit der Notrufzentrale zu kommunizieren. Das Fehlen dieser Funktionalität in der Notfall-App „nora“ wird vom Deutschen Gehörlosen-Bund (gehoerlosen-bund.de) kritisiert. Trotz Möglichkeit zum Videocall fehlt diese allerdings auch bei den anderen Apps, mit Ausnahme von TESS.

Zusätzlich zu den berechtigten, kritischen Fragen an das Projekt „nora“, kommt also auch die Frage auf, wieso man nicht eine der bereits vorhandenen Apps mit größerem Funktionsumfang unterstützt hat, statt eine neue App mit geringerem Umfang zu fördern.

Die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg hat hierzu eine Stellungnahme verfasst (domscheit-berg.de) und das Ergebnis ihrer Kleinen Anfrage an den Bundestag vorgestellt (bundestag.de).

Obwohl die Umsetzung von digitalen Lösungen, wie den genannten Apps, noch großes Potenzial für Verbesserungen birgt, sollte man bei seiner Kritik den Status Quo im Hinterkopf behalten. Dieser ist seit 1973 die deutsche bzw. größtenteils europaweite Notrufnummer 112 (malteser.de). Für sprach- oder hörbehinderte Menschen ist das Ganze etwas umständlicher: sie haben nach § 108 II TKG die Möglichkeit, ein Fax zu senden (dejure.org). Dies verdeutlicht umso mehr die Notwendigkeit einer modernen Lösung.

In Portugal, Frankreich und Litauen gibt es schon seit einiger Zeit Apps, die von sprach- oder hörbehinderten Menschen genutzt werden können, um einen Notruf abzusetzen. In Portugal (fpasurdos.pt) können die Nutzer entscheiden, ob sie mittels Textchat oder Video mit der Leitstelle kommunizieren wollen. Hierbei wird der aktuelle Standort des Notrufabsetzenden sofort an die Leitstelle übermittelt. Bei der Videokommunikation wird rund um die Uhr garantiert, dass Dolmetscher anwesend sind, die die Gespräche zwischen Leitstelle und der Person in Not übersetzen. In Frankreich (urgence114.fr) gibt es seit 2011 eine eigene Notrufnummer und gleichnamige App „114“ für sprach- oder hörbehinderte Menschen, bei der die Betroffenen über Videochat, Fax oder SMS mit der Leitstelle kommunizieren können. Auch dieser Dienst ist rund um die Uhr erreichbar. Ähnlich ist die Situation in Litauen (112.lt).

Im Alltag erweisen sich die im Ausland genutzten Methoden als notwendig und erfolgreich, weshalb die Implementierung einer Videocall-Funktion unabdingbar ist. Natürlich muss dann auch gewährleistet werden, dass Dolmetscher rund um die Uhr Bereitschaft haben, um die Kommunikation reibungslos ablaufen lassen zu können.

Da es viele unterschiedliche Gebärdensprachen gibt, sollte eine internationale Zusammenarbeit angestrebt werden, um die bestmögliche Kommunikation mit dem Anrufenden garantieren zu können. Momentan müssen Rettungskräfte und Polizei im Einsatz auf Stift und Papier zurückgreifen, wobei diese Kommunikationsart zeitintensiv und unpraktisch ist. Hier wären Dolmetscher:innen über Video eine große Hilfe, um effizient agieren zu können. Die Videokommunikation kann aber auch breiter eingesetzt werden. So werden heute noch Fotos per E-Mail an die Leitstelle verschickt, damit diese sich ein besseres Bild eines Notfalls machen kann. Mittels Videoübertragung könnte in dem Fall in Echtzeit reagiert und die notwendigen Einsatzkräfte könnten leichter alarmiert werden.

Ein weiteres, im Rettungsdienst schon breit eingesetztes Tool ist das Projekt „aidminutes.rescue“ (aidminutes.com) von der Universitätsmedizin Göttingen und dem Malteser Hilfsdienst Niedersachsen. Diese App ermöglicht bisher die Übersetzung von im Rettungsdienst relevanten Handlungen und Fragen in 40 unterschiedliche Sprachen. Die Fragen können hierbei immer mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden. Wenn diese Fragen und Handlungen in Gebärdensprache in Form von Video zur Verfügung stehen würden, wäre die Kommunikation mit der Person in Not um vieles leichter.

Da ein Notruf für jeden möglich sein muss, ist ein flächendeckendes, schnelles und mobiles Internet essenziell, um nicht nur normale Notrufe, sondern auch Notrufe per Videocall absetzen zu können. Nach § 108 I 7 TKG müssen außerdem die Kosten einer Notrufverbindung vom Dienstanbieter getragen werden, was somit auch für die Videokommunikation gelten sollte. Die Umsetzungen in den vorgestellten Nachbarländern, die Erfahrungen aus dem Alltag und die Kleine Anfrage von Anke Domscheit-Berg zeigen, dass Digitalisierung nicht damit gelöst ist, eine neue App zu fördern. Vielmehr geht es darum, die zugrundeliegenden Prozesse zu verstehen, mit den Beteiligten in den Austausch zu gehen und sinnvolle Maßnahmen unter Zuhilfenahme von digitalen Möglichkeiten zu ergreifen.

Wir danken an dieser Stelle unseren Kontakten aus dem Rettungsdienst für die wertvollen Einblicke in den Alltag und das Aufzeigen weiterer Hürden und Chancen.

Wir danken den Autorinnen und Autoren Sarah Groos, Lasse Cezanne und Elrike van den Heuvel aus der Redaktionsgruppe „SocIeTy“ für diesen Überblick. Da sowohl gesellschaftlich als auch politisch insbesondere im Rahmen der Verwendung neuer Technologien immer wieder Diskussionsbedarf entsteht, freuen wir uns, gemeinsam einen Diskurs zu genau solchen Themen zu gestalten. Verlinken (und folgen) Sie uns gerne auf Twitter unter @society_read. Sie erreichen die Autoren außerdem unter redaktion.sozioinformatik@cs.uni-kl.de.

GI-MELDUNGEN

GI-Jahresbericht erschienen. Was die GI in den vergangenen 12 Monaten alles auf die Beine gestellt hat, was sie in der Vergangenheit und in der Zukunft bewegt, welche Akzente sie gesetzt hat und welche Pläne sie hegt, haben wir für Sie in einem ausführlichen Jahresbericht zusammengestellt, den Sie auf unserer Webseite finden.  weiterlesen

GI-Vorstands- und Präsidiumswahl gestartet. In diesen Tagen sollten alle Wahlberechtigten ihre Wahlunterlagen für die GI-Wahlen 2021 erhalten, bei denen für das Jahr 2022 neben drei Plätzen für das Präsidium auch der Vorstand neu zu besetzen ist. Die potenziell neuen Gremiumsmitglieder haben ganz unterschiedliche Hintergründe und Schwerpunkte, sodass Sie hoffentlich für beide Organe Personen finden, denen Sie Ihr Vertrauen schenken möchten. Wir freuen uns auf eine hohe Wahlbeteiligung.  weiterlesen

GI-Tagungen entdecken. Dass in der GI ganz verschiedene Fachtagungen stattfinden, wissen Sie sicher. Wissen Sie aber auch, dass Sie die meisten Tagungsbände in unserer digitalen Bibliothek frei lesen und herunterladen können? Und dass Sie dort nach Autorinnen, Autoren und Themen suchen können? Unsere Bibliothek bietet einen schier unerschöpflichen Fundus an Wissen. Schauen Sie rein.  weiterlesen

Neues Informatik Spektrum erschienen. In Heft 5 des Informatik Spektrums geht es unter anderem um Ethik in der Softwareentwicklung, Entscheidungsbäume und NFDI. Sie finden das Heft in der Digitalen Bibliothek und zum direkten Download im Mitgliederbereich.  weiterlesen

 

Kennen Sie eigentlich den GI-Pressespiegel? Dort sammeln wir die Berichterstattung über unsere Fachgesellschaft in Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträgen. Schauen Sie rein, es gibt da immer wieder Neues.

FUNDSTÜCK

Zum Selbstverständnis und dem Standesdenken der Informatikfachleute: was macht unsere Profession aus? Wer Physik, Mathematik, Medizin oder Jura studiert, wird gemeinhin mit großer Ehrfurcht betrachtet: altehrwürdige Disziplinen mit zum Teil speziellen Standesregeln und einem besonderen Anspruch an die eigene Arbeit und die ethische Verpflichtung, Stichwort hippokratischer Eid. Wie sieht es aber mit der Informatik aus? Ist in der Softwareentwicklung die Verantwortung nicht mittlerweile zum Teil ebenso groß wie in einem Operationssaal, wenn es dabei beispielsweise um sogenannte kritische Infrastrukturen oder Informatik in der Medizin geht? Erst wenn unsere Disziplin ein ähnliches Selbstbewusstsein und eine ähnliche Reputation wie Medizin und Jura erlangt, lassen sich verbindliche Qualitätsstandards, bzw. Ethische Leitlinien etablieren.  Zum Fundstück (acm.org, engl.)

Dieses Fundstück hat uns Friedrich Steimann zugeschickt – vielen Dank! Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!

 

Dies war Ausgabe 297 des GI-Radars. Zusammengestellt hat sie Dominik Herrmann, der sich diese Woche darauf freute, nach drei Semestern Online-Lehre endlich wieder einen Hörsaal zu betreten, nur um dort dann zwei defekte Beamer vorzufinden. GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter hat die Mitteilungen und Meldungen zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 5. November 2021.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) zukommen lassen.