GI-Radar 262: Kompetenzen für digitale Souveränität

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

auch in den letzten zwei Wochen ging es in den Nachrichten primär um Fragen der (richtigen) Digitalisierung im Gesundheitswesen (Kurzmitteilungen). Dass digitale Souveränität wichtig ist, liegt auf der Hand – mehr dazu in unserem Thema im Fokus. In den GI-Mitteilungen weisen wir Sie darüber hinaus auf eine – natürlich virtuelle – Veranstaltung zur Digitalen Bildungspolitik der Zukunft hin (4. Mai, 18 Uhr). Falls Sie dieses GI-Radar am verlängerten Wochenende lesen, freuen Sie sich vielleicht über die umfangreiche Linksammlung in unserem Fundstück.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe!

auf gi-radar.de weiterlesen

Corona-Tracing + Mangelnde Digitalisierung im Gesundheitswesen + FifF: Open-Source-Tools zur Zusammenarbeit + Medienstaatsvertrag kippt? + Kurt Gödels Geburtstag + Digitale Souveränität + GI-Vizepräsident bei fiffkon 2019 + GI-Gründungsmitglied verstorben + Digitale Bildungspolitik: Diskussion + GI kritisieirt zentrale Corona-Apps + What Every CS Major Should Know

KURZMITTEILUNGEN

Corona-Tracing: Vor- und Nachteile und eigene Verantwortung (ZEIT). Nach lebhaften Diskussion in den letzten Wochen sollen bei der deutschen Kontakt-Tracing-App die Daten nun doch dezentral gespeichert werden. Eine App ersetzt allerdings nicht das rationale Denken und Handeln. Ein Kommentar von Meike Laaf.  weiterlesen

Mangelnde Digitalisierung im Gesundheitswesen beklagt (Deutschlandfunk). In der Corona-Zeit wird laut des Sachverständigenrats zur Entwicklung des Gesundheitswesens besonders deutlich, welche Defizite bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens bestehen. Das Fehlen der flächendeckenden, elektronischen Gesundheitsakte ebenso wie altmodische Meldewege via Fax oder ein fehlendes Intensivregister zeigten gerade in der derzeitigen Situation deutlich, wo Nachholbedarf bestehe, so der Sprecher des Sachverständigenrats.  weiterlesen

FifF fordert Open-Source-Tools zur virtuellen Zusammenarbeit (taz). Viele der GI-Mitglieder (und natürlich darüber hinaus) dürften in den letzten Wochen intensive Bekanntschaft mit Videokonferenzen und der entsprechenden Software gemacht haben. Oft forderte dabei die Not heraus, sodass häufig nach einer kurzen Abwägungen von Vor- und Nachteilen einzelner Produkte der Pragmatismus im Vordergrund stand: was am intuitivsten und besten funktioniert, wird eingesetzt. Warum das nicht immer der Weisheit letzter Schluss und die Förderung von Open Source-Tools wichtig ist, erläutert das FifF.  weiterlesen

Medienstaatsvertrag in Deutschland droht von der EU gekippt zu werden (FAZ). In Deutschland soll(te) ein Medienstaatsvertrag in Kraft treten, der die Macht der großen Digitalkonzerne beschränken und sie in die Pflicht nehmen wollte. Nun wird jedoch Kritik laut, der Medienstaatsvertrag widerspreche der E-Commerce-Richtlinie und dürfe deshalb nicht in Kraft treten.  weiterlesen*

Geburtstag von Kurt Gödel (heise). Auch wenn Kurt Gödel von Haus aus Mathematiker war, begegnet man ihm in der theoretischen Informatik allenthalben. Über das P-NP-Problem, ein ungelöstes Problem der Informatik aus der Liste der Millenniumsprobleme, tauschte er sich bereits in den 50er Jahren mit John von Neumann aus. In dieser Woche vor 114 Jahren wurde Kurt Gödel geboren.  weiterlesen

* Artikel ist ggf. nur mit deaktiviertem Adblocker lesbar.

THEMA IM FOKUS

Der Marathon auf dem Drahtseil: Kompetenzen für eine digitale Souveränität. Um digitale Souveränität einschätzen und gestalten zu können, benötigen wir wissenschaftliche Methoden – nur wenn wir uns einig sind, worüber wir genau sprechen, können wir Maßnahmen entwickeln und deren Umsetzung sinnvoll evaluieren.

In der anwendungsnahen Informatikforschung und beim Technologietransfer stellen sich hier verschiedene Fragen:

Wie kann ich mithilfe digitaler Technologien meine Prozesse effizient automatisieren ohne die Kontrolle über die einzelnen Abläufe zu verlieren?

Welche der hierfür nötigen Tools erstelle ich selbst und was lagere ich an Fachleute aus? Wie kann ich die nötige Nachvollziehbarkeit gewährleisten?

Wenn ich IT-Produkte von Drittanbietern einsetze, wie tief muss das Verständnis meiner eigenen Beschäftigten für deren Wirkweise noch sein? 

Für alle Institutionen in Deutschland und Europa stellt sich digitale Souveränität als Gratwanderung zwischen Fremdbestimmung und Abschottung dar: Wie kann ich mir Fortschritte Dritter zunutze machen, ohne davon zu abhängig zu werden? Welche konkreten Entwicklungs- und Herstellungskompetenzen benötigen wir, um in relevanten Technologiefeldern Vorreiter zu sein? Welche konkreten Prüf- und Veredelungskompetenzen benötigen wir, um Technologien Dritter selbstbestimmt einsetzen zu können?

Diese Fragen hat das FZI gemeinsam mit Accenture und Bitkom Research im Rahmen der durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie beauftragten und im Jahr 2017 veröffentlichten Studie „Kompetenzen für eine digitale Souveränität" adressiert (bmwi.de). Viele der Erkenntnisse sind auch heute noch aktuell. Der Themenkomplex „digitale Souveränität“ erlebt nun – drei Jahre später – eine Renaissance. Steigende Abhängigkeiten von IT-Lösungen führen dazu, dass der Ruf nach digitaler Souveränität lauter wird. Das nährt einerseits die Debatte, führt aber auch dazu, dass der Begriff droht, zum leeren Buzzword zu werden. Dies erschwert und verlangsamt den Diskurs wiederum.

Wissenschaft definiert und modelliert gern, und so ist es naheliegend, den abstrakten Begriff zunächst in verarbeitbare Module zu zerlegen. In den Karlsruher Thesen zur Digitalen Souveränität Europas (link.springer.com) wird ein erster Definitionsversuch unternommen:

Infrastruktursouveränität: Technische Infrastrukturen können vertrauenswürdig herzgestellt oder ihre Vertrauenswürdigkeit geprüft und sie so betrieben werden, dass darauf angebotene Dienste vertrauenswürdig sein können.

Datensouveränität: Personen und Institutionen verfügen über die Fähigkeit, informiert und selbstbestimmt zu entscheiden, wie und von wem Informationen erhoben, verarbeitet und weitergegeben werden.

Entscheidungssouveränität: Ursprünge und Begründungen für Entscheidungen und Handlungsempfehlungen autonomer Systeme und Assistenten können nachvollzogen und diese ggf. durch menschliches Eingreifen beeinflusst werden.

Plattformsouveränität: Auch die Marktmacht großer Akteure wird in einer Plattformökonomie durch Regulierung und bewusste Kundenentscheidungen auf ein Maß beschränkt, in dem ein fairer Wettbewerb möglich bleibt.

Infrastruktursouveränität wird besonders im Kontext des Ausbaus der 5G-Mobilfunknetze diskutiert. Zur Steigerung der Datensouveränität soll das Projekt GAIA-X einen essenziellen Beitrag leisten (bmwi.de). Plattformsouveränität ist Gegenstand der inzwischen etwas in die Jahre gekommenen (aber dennoch hochrelevanten) Debatte zur Macht sozialer Netzwerke und anderer mächtiger IT-Konzerne, die aufgrund ihres globalen Aktionsraums und ihrer Marktmacht schwer zu regulieren sind.

Nun stellt sich also die Frage, wie Entscheidungssouveränität hergestellt werden kann. Und wieder hilft Strukturierung bei der Suche nach einer Antwort: (1) Worüber entscheiden wir? Was sind eigentlich die relevantesten Technologiefelder für digitale Souveränität? (2) Wie entscheiden wir? Welche gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen, und politischen Zielvorgaben und Rahmenbedingungen gilt es zu beachten?

In der Studie „Kompetenzen für eine digitale Souveränität“ wurde also zunächst ein Kriterienkatalog erarbeitet, mit dem die Relevanz einzelner Technologien für eine digitale Souveränität bewertet werden kann. Die auf dieser Basis als entscheidend identifizierten Einzeltechnologien wurden dann zu sieben Technologiefeldern zusammengefasst. Jedes dieser Technologiefelder wurde hinsichtlich der oben gennannten und weiterer Dimensionen beleuchtet und entsprechende Handlungsempfehlungen abgeleitet.

Drei Jahre nach Veröffentlichung der Studie werden einige in der Studie angesprochenen Aktionsfelder bereits mit Hochdruck bearbeitet und die wichtige Zielsetzung der digitalen Souveränität wird von verschiedensten Akteuren intensiv beleuchtet. Nichtsdestotrotz gibt es neben dem oben geäußerten Wunsch nach Versachlichung und Konkretisierung der Debatte auch einige Hinweise an die handelnden Institutionen und Personen:

1. Nicht „Wir gegen die“ sondern „Wir gemeinsam“ – und zwar koordiniert: In vielen Diskussionen wird ein Spannungsfeld zwischen Europa, den USA und China aufgezeigt, das von Konkurrenz und Abgrenzung gekennzeichnet ist. Doch diese und viele andere Volkswirtschaften verbindet mehr als sie trennt. So sollten auch in der öffentlichen Kommunikation gemeinsame Wertvorstellungen von „like-minded nations“ in den Vordergrund gestellt werden.

2. Besonderheiten in Deutschland und Europa anerkennen und Stärken fördern: Unsere Wirtschaft ist strukturell anders als die in anderen Regionen der Welt. Die Heterogenität im Mittelstand ist Herausforderung und Chance zugleich und erfordert spezifische Maßnahmen. Wirtschafts- und Innovationspolitik hat daher den Auftrag, kleine und mittlere Unternehmen aktiv einzubeziehen.

3. Auf konkreten Nutzen konzentrieren statt ziellose Debatten zu führen: Um den Mittelstand für Digitalisierungsvorhaben zu begeistern, muss er Überzeugt werden. Dies geht am besten durch klare Beispiele: Was wird durch diese Innovation besser? Welche wirklichen Probleme lösen wir damit?

4. Ehrgeizig und selbstbewusst eigene Wege gehen: Deutschland mag auf der internationalen Bühne nicht immer besonders cool oder innovativ wirken, aber wir sind in Vielem besser als wir selbst glauben. Wir müssen und dürfen uns nicht verstecken. Wir sollten also nicht nur versuchen, in Puncto Datensouveränität mit den großen Playern mitzuhalten, sondern direkt darüber nachdenken, was wir besser können als diese.

Der Schlüssel digitaler Souveränität ist die Entscheidungssouveränität. Neben gesellschaftlichen Veränderungen müssen wir auch zu jeder Zeit die großen technologischen Entwicklungen vorhersehen und mitgestalten. Hierfür brauchen wir einen gemeinsamen Plan, den Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft engagiert umsetzen.

Diesen Beitrag hat Luise Kranich geschrieben. Eine gekürzte Fassung ist im GI-Arbeitspapier Schlüsselaspekte digitaler Souveränität erschienen. Luise Kranich leitet am FZI Forschungszentrum Informatik die Berliner Außenstelle und den Bereich „Innovation, Strategie und Transfer“. Mit ihrem Team forscht sie an technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen der Digitalisierung und wie diese sinnstiftend und unter Wahrung der digitalen Souveränität eingesetzt werden kann.

GI-MELDUNGEN

GI-Vizepräsident von Gernler auf der fiffkon 2019. Informatik und Verantwortung, Primat der Technik oder Primat des Menschen, Ressourcenverbrauch der Informatik, Datenschutz und Aufklärungspflicht, ethische Fragen, Vertrauen in Technik oder kritisches Hinterfragen derselben: Ein Vortrag zum Thema Informatik in der Gesellschaft und die Rolle der Informatikerinnen und Informatiker auf der Jahreskonferenz des „Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“ (FIfF).  weiterlesen

GI-Gründungsmitglied Gerhard Goos gestorben. Als Mitglied mit der Nummer 18 war Gerhard Goos aus Karlsruhe von Anfang an bis ganz zum Schluss ein aktives, engagiertes, manchmal umbequemes, weil Finger in Wunden legend, dabei aber immer konstruktives Mitglied. Als Fellow und Mitherausgeber des Informatik Spektrums hat er sich bis zuletzt an der Weiterentwicklung der GI beteiligt und seine Gedanken und Ideen beigesteuert. Wir werden ihn mit seiner besonderen Art vermissen und trauern mit seiner Familie.  weiterlesen

Digitale Bildungspolitik der Zukunft: virtuelle Diskussionsrunde am 4. Mai. Homeschooling und virtuelle Vorlesungen an den Hochschulen: in einem enormen Tempo sieht sich die deutsche Bildungslandschaft gezwungen, neue Formate des Lehrens und Lernens zu entwicklen und anzuwenden. Vor welche Herausforderungen dies stellt und wie es in Nach-Corona-Zeiten weitergehen könnte, diskutieren Fachleute aus Schulen, Hochschulen und der Politik am 4. Mai ab 18 Uhr. Informationen und Anmeldung finden Sie hinter dem Link.  weiterlesen

Zentrale Datenspeicherung bei Corona-App kritisiert. Gemeinsam mit einer Vielzahl an digitalpolitisch orentierten Vereinigungen hat die GI einen offenen Brief an die Verantwortlichen in der Regierung unterzeichnet, die geplante Tracing-App datenschutzfreundlich zu gestalten.  weiterlesen

Kennen Sie eigentlich den GI-Pressespiegel? Dort sammeln wir die Berichterstattung über unsere Fachgesellschaft in Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträgen. Wie auch vor 14 Tagen ist das Thema Corona und Datenschutz ein heiß diskutiertes Thema. Beispielsweise berichten unter anderem die ARD und die SZ*, dass aufgrund von Protesten auch der GI das Konzept der geplanten Tracing-App modifiziert wurde.

FUNDSTÜCK

What Every Computer Science Major Should Know. Was sollten Informatikerinnen und Informatiker können? Die Antwort auf diese Frage können Sie zum Beispiel den Curricularempfehlungen entnehmen, die von den einschlägigen GI-Arbeitsgruppen erarbeitet werden. Unser Fundstück liefert ebenfalls Antworten auf diese Frage – und ist etwas leichter zugänglich. Die Seite enthält eine gut motivierte Aufstellung von rund 30 Fachgebieten, die nach Auffassung von Professor Matt Might (University of Alabama at Birmingham / Harvard Medical School) und seinen Lesern den Kern der Informatik darstellen.    Zum Fundstück (matt.might.net, engl.)

Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!

 

Dies war Ausgabe 262 des GI-Radars. Zusammengestellt hat sie Dominik Herrmann, der noch einiges nachzuholen hat, bis er weiß, was er als Informatiker alles wissen sollte. Die Mitteilungen hat GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 15. Mai 2020.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) zukommen lassen.