GI-Radar 278: Vision Videos im Requirements Engineering

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

in dieser Ausgabe empfehlen wir Ihnen zunächst in den Kurzmitteilungen u.a. einen Überblicksbeitrag zu Konzepten der Kryptographie. Das Thema im Fokus befasst sich mit sog. Vision Videos im Requirements Engineering. Auf das nächste Informatik Spektrum weisen wir in den GI-Meldungen hin. Unser Fundstück ist schließlich eine aufgezeichnete MIT-Vorlesungsreihe, die das Handwerkszeug vermittelt, das im Informatik-Studium vielerorts zu kurz kommt.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe!

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Konzepte der Kryptographie + Recht und Macht der sozialen Netzwerke + Wettergebnis zum Überleben + Digitale Trauer + Requirements Engineering und Vision Videos + Albert Endres verstorben + GI-Fellows vorschlagen + GI-Beitragsmitteilung + Informatik Spektrum verfügbar + Engagement und Unterstützung + Missing Semester of your CS Education

KURZMITTEILUNGEN

Kryptographie: Grundbegriffe überblicksartig erklärt (heise). In der Softwareentwicklung spielt der Schutz mittlerweile eine große Rolle. In einem Überblicksartikel erklärt heise die grundlegenden Konzepte der Kryptographie, wie sie sich unterscheiden und was sie leisten können.  weiterlesen

Soziale Netzwerke: Zensur, Verantwortung, Profit? Eine schwierige Entscheidung (NZZ). Twitter und Facebook haben den noch amtierenden US-Präsidenten Trump temporär oder dauerhaft gesperrt. Viele sagen „längst überfällig“, andere wägen ab „wieviel Macht billigt man Konzernen zu?“. Ein Dilemma, das sich nicht so einfach lösen lässt.  weiterlesen

Überleben wir die Technologie? Ergebnis einer Wette von vor 25 Jahren (ZEIT). Vor 25 Jahren trafen sich ein Optimist und ein Pessimist und schlossen eine Wette ab: hat die Technologie in einem Vierteljahrhundert die Gesellschaft zerstört? 25 Jahre später wird Resümee gezogen mit dem Ergebnis: hurra, wir leben noch.  weiterlesen

Trauer auf Distanz: Digitales Abschiednehmen (SZ). Die Corona-Pandemie hat einen bis vor einem Jahr undenkbaren Digitalisierungsschub ausgelöst. Homeoffice, Homeschooling und Familien-Weihnachten per Videokonferenz sind das „neue Normal“. Auch beim letzten Abschied zieht die Digitalisierung ein: die Beerdigung via Videostream, QR-Code auf dem Grabstein und ein Nachdenken über das machbare Abschiednehmen.  weiterlesen

Reporter ohne Grenzen legen Beschwerde gegen Überwachung ein (Netzpolitik). Die Beschwerde der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) gegen den Bundesnachrichtendienst (BND) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist angenommen worden. RSF hatte dagegen geklagt, dass ihre Kommunikation überwacht wird und führt an, gerade in Krisengebieten sei der Schutz der Privatsphäre der Journalistinnen und Journalisten sowie der Quellen unabdingbar.  weiterlesen

THEMA IM FOKUS

Geteilte Projektvision mittels Vision Videos: ein Medium für proaktiven Informationsaustausch. Das übergeordnete Ziel des Requirements Engineering Prozesses ist die Etablierung einer geteilten Projektvision in dem relevanten Systemkontext unter allen Beteiligten. Für dieses Ziel ist eine effektive Koordination und Kommunikation der Bedürfnisse aller erforderlich, sodass das Entwicklungsteam in der Lage ist eine Lösung zu implementieren, die die Interessensvertretung akzeptiert.

Dieser Prozess wird Anforderungskommunikation genannt und beinhaltet die Entwicklung und Aushandlung eines gemeinsamen Verständnisses über die Ziele, Pläne, Status und Kontext eines Projektes unter allen Beteiligten. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, dass alle Beteiligten ihre mentalen Modelle des zukünftigen Systems, d. h. ihre Visionen, offenlegen, diskutieren und aneinander ausrichten, indem sie ihre Ziele, Ideen, Bedürfnisse und Erwartungen explizit ausdrücken.

Ein mentales Modell ist eine konzeptuelle Idee einer Person, die das individuelle Verständnis dieser Person widerspiegelt wie ein System funktioniert. Durch einen solchen Austausch der mentalen Modelle kann ein gemeinsames Verständnis unter allen Beteiligten geschaffen werden, wodurch eine geteilte Projektvision entsteht.

Bei der geteilten Projektvision handelt es sich um die Essenz der mentalen Modelle aller Interessensvertreterinnen und -vertreter von dem ultimativen System, das ihre Bedürfnisse erfüllt. Die geteilte Projektvision beschreibt den Umfang des zu entwickelnden Systems und ermöglicht damit der Interessensvertretung und dem Entwicklungsteam zu beurteilen und sich darauf zu einigen, was die relevanten Anforderungen sind und welche Bedeutung diese Anforderungen für das zukünftige System haben. Nur wenn die Interessensvertretung und das Entwicklungsteam die gleiche Projektvision verstehen, teilen und akzeptieren, können sie ihre Aktivitäten und Aktionen im Projekt so ausrichten, dass sie erfolgreich das zukünftige System entwickeln.

Interessensvertretung und ein Entwicklungsteam können leichter ein gemeinsames Verständnis und damit eine geteilte Projektvision erzielen, wenn sie Praktiken nutzen, die einen proaktiven Informationsaustausch unter ihnen unterstützen. Die aktuellen Praktiken des Requirements Engineerings beschreiben eine Vision jedoch hauptsächlich textuell. Dieses Darstellungsformat ist weniger geeignet für eine effektive Anforderungskommunikation mit einem proaktiven Informationsaustausch aufgrund von zwei wesentlichen Gründen. Zunächst erhöhen die der natürlichen Sprache zugrundeliegenden Einschränkungen wie Mehrdeutigkeit und Abstraktion die Wahrscheinlichkeit von unentdeckten Missverständnissen, die ein gemeinsames Verständnis erschweren. Des Weiteren können in einer textuellen Dokumentation nicht alle Informationen erfasst werden, die für die Interessensvertretung und das Entwicklungsteam relevant sind. Insbesondere mentale Modelle sind aufgrund ihrer nicht greifbaren Natur als stillschweigende Repräsentationen in den Köpfen der beteiligten Personen komplexe und schwer zu erfassende Konstrukte.

Aus diesen Gründen erfordert der Austausch von mentalen Modellen einen anderen Kommunikationsmechanismus als textuelle Dokumentation. Dieser Kommunikationsmechanismus muss sich für einen proaktiven Informationsaustausch eignen, sodass die Beteiligten ihre mentalen Modelle offenlegen, diskutieren und aneinander ausrichten, um ein gemeinsames Verständnis erzielen und damit eine geteilte Projektvision etablieren zu können.

Im Gegensatz zu textueller Dokumentation sind Videos ein vielversprechender Kommunikationsmechanismus für gemeinsames Verständnis, um eine geteilte Projektvision zu etablieren. Vision Videos sind in diesem Zusammenhang eine spezifische Art von Videos, deren Anwendung dem Erzielen eines gemeinsamen Verständnisses dient, sodass die Interessensvertretung und das Entwicklungsteam die gleiche Projektvision verstehen, teilen, und akzeptieren.

Ein Vision Video ist ein Video, das eine Vision oder Teile davon (adressiertes Problem, Kernidee der Lösung und Mehrwert der Lösung für das Problem) zeigt, um ein gemeinsames Verständnis unter allen Beteiligten zu erzielen, indem sie ihre mentalen Modelle des zukünftigen Systems offenlegen, diskutieren und aneinander ausrichten. Ein Vision Video zeigt die Vision eines zukünftigen Systems und legt damit das mentale Modell des Videoproduzenten offen, wodurch das mentale Modell externalisiert und damit greifbar gemacht wird. Diese explizite Darstellung bietet einen visuellen Referenzpunkt für aktive Diskussionen unter allen Beteiligten, um ihre mentalen Modelle aneinander auszurichten. Die Interessensvertretung und das Entwicklungsteam können mithilfe eines Vision Videos kritische Punkte in ihren mentalen Modellen identifizieren, diskutieren, verstehen und im besten Fall auflösen. Auf diese Weise hilft ein Vision Video bei der Entwicklung und Aushandlung von einem gemeinsamen Verständnis und damit bei der Etablierung einer geteilten Projektvision.

Vision Videos sind keine neue Praktik im Requirements Engineering. Eines der wohl bekanntesten Vision Videos ist der „Knowledge Navigator“ von Apple aus dem Jahr 1987. Des Weiteren ist seit 2017 jedes Forschungs- und Innovationsprojekt, das von der Europäischen Union durch Rahmenprogramme wie Horizon 2020 gefördert wird, dazu aufgerufen ein Vision Video zu produzieren, um die zukünftigen Auswirkungen des Projektes auf das Leben der europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie der Gesellschaft als Ganzes aufzuzeigen. Die bisher von geförderten Projekten produzierten Vision Videos sind in einer Playlist des YouTube Kanals „EU Science and Innovation“ abrufbar. Diese Playlist umfasst 376 Vision Videos.

Trotz der Vorteile von Vision Videos ist das Medium Video kein etablierter Kommunikationsmechanismus für ein gemeinsames Verständnis im Requirements Engineering. In einer Umfrage sind Software-Fachleute aus der Industrie und Forschung dazu befragt worden, was sie daran hindert Videos, als Kommunikationsmechanismus im Requirements Engineering einzusetzen. Die Ergebnisse der Umfrage untermauern zwei wesentliche Hindernisgründe, die die Produktion von Videos als behindern: (1) Software-Fachleute assoziieren die Produktion eines Videos mit einem hohen Aufwand und (2) Software-Fachleuten fehlen die Kenntnisse und Fähigkeiten, selber gute Videos zu produzieren.

Eine Vielzahl von wissenschaftliche Arbeiten hat bereits aufgezeigt, wie Vision Videos für eine effektive Anforderungskommunikation eingesetzt werden können. Jedoch fokussieren diese Arbeiten nur die Nutzung von Vision Videos und vernachlässigen dabei die Details, wie ein gutes Vision Video zu produzieren ist, damit es für den jeweiligen Ansatz geeignet ist. Bisher gibt es nur wenige Forschungsarbeiten, die sich mit der Herausforderung befassen, Software-Fachleute mit den notwendigen Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, um selber gute Vision Videos zu produzieren. Aktuell werden intensive Bemühungen unternommen, um Software-Fachleute bei der Produktion von Vision Videos anzuleiten und zu unterstützen. Das Ziel dieser Arbeiten ist es, die Tätigkeit der Produktion von Vision Videos besser in das Requirements Engineering zu integrieren, indem den beiden wesentlichen Hindernisgründen entgegengewirkt wird. Jedoch werden erst die kommenden Jahre zeigen, ob diese intensiven Bemühungen zielführend sind und Software-Fachleute die bereitgestellte Unterstützung annehmen, um selber Vision Videos als ein Mittel zur Etablierung einer geteilten Projektvision im Requirements Engineering zu produzieren und einzusetzen.

Diesen Beitrag hat Oliver Karras (oliver.karras@inf.uni-hannover.de) verfasst, der sich als stellvertretender Sprecher der Fachgruppe Requirements Engineering in der Gesellschaft für Informatik engagiert.

GI-MELDUNGEN

GI-Fellow Albert Endres verstorben. Albert Endres, GI-Mitglied der ersten Stunde, einer der ersten Fellows, eine streitbare, manchmal unbequeme, aber immer der GI und der Informatik innig verbundene Persönlichkeit, ist am 28. Dezember gestorben. Viele kennen ihn von früher, manche haben seinen Blog verfolgt und ihm für Interviews Rede und Antwort gestanden. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie.  weiterlesen

GI-Fellows gesucht! Wie in jedem Jahr suchen wir bis zum 25. Mai GI-Mitglieder, die sich – sei es um die Informatik allgemein oder die GI im Besonderen – verdient gemacht haben. Wir zeichnen jedes Jahr herausragende Persönlichkeiten mit dem GI-Fellowship aus und möchten das auch in diesem Jahr tun. Machen Sie von der Möglichkeit Gebrauch, spannende Personen aus Ihrem Umfeld vorzuschlagen.  weiterlesen

Informatik Spektrum online. Das neue Informatik Spektrum ist da. Es behandelt unter anderem die ethische Datennutzung, Blockchain, die Entwicklung der Podcasts, E-Learning-Fragen und Mensch-Computer-Interaktion-Themen. Sie finden die Einzelartikel in der Digitalen Bibliothek und das Gesamt-PDF zum Herunterladen hinter dem Link.  weiterlesen

GI-Beitragsmitteilung und Ihre Mitgliedsdaten. Voraussichtlich in der kommenden Woche versenden wir die GI-Beitagsmitteilungen für das Jahr 2021. Sie finden sie dann in Ihrem Postfach, oder - wenn Sie dies explizit wünschen - zusätzlich per Post. Ihre persönlichen Daten, Ihre Mitgliedschaften in Fach- und Regionalgruppen und Ihre Zeitschriften können Sie jederzeit unter https://meine.gi.de einsehen.  weiterlesen

Wollen Sie die GI bekannt(er) machen? Können Sie sich vorstellen, vor Ihren Studierenden oder Kolleginnen und Kollegen etwas über die GI zu erzählen? Oder wollen Sie sich einfach mal schlau machen, was die GI im Überblick bietet (viel mehr, als die meisten wissen): Dann schauen Sie in den GI-Mitgliederbereich, wo Sie zahlreiches Material, auch zum Bearbeiten, finden. Und wenn Ihnen etwas fehlt: melden Sie sich. Wir freuen uns über Anregungen.  weiterlesen

 

Kennen Sie eigentlich den GI-Pressespiegel? Dort sammeln wir die Berichterstattung über unsere Fachgesellschaft in Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträgen. Dieses Mal geht es unter anderem um den SolarWinds-Hack: was war das und wie ist er zu bewerten? Hartmut Pohl, Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises Datenschutz und IT-Sicherheit analysiert den Hack, der große Unternehmen und auch Sicherheitsbehörden getroffen hat (it-daily.net). Schauen Sie rein, es gibt da immer wieder Neues.

FUNDSTÜCK

The Missing Semester of your CS Education. Das Studium an einer Hochschule vermittelt angehenden Informatikerinnen und Informatikern Theorie und Praxis auf akademischem Niveau. Dabei bleibt oft keine Zeit, um das Handwerkszeug zu vermitteln. Die Bedienung eines Texteditors, weiterführende Konzepte verteilter Versionskontrollsysteme, Shell-Programmierung zur Automatisierung von wiederkehrenden Aufgaben, zielstrebiges Debugging sowie den Umgang und die Auswertung von größeren Datenmengen müssen sich Studierende daher en passant selbst aneignen – problemorientiert, aber unstrukturiert. Am MIT gibt es nun seit einiger Zeit eine aufgezeichnete Vorlesungsreihe, in der (nicht nur) die genannten Themen gründlich behandelt werden. Sehenswert!   Zum Fundstück (missing.csail.mit.edu, engl.)

Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!

 

Dies war Ausgabe 278 des GI-Radars – die erste im Jahr 2021. Zusammengestellt hat sie Dominik Herrmann – im übrigen mit dem Editor vim. Mitteilungen und Meldungen hat GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 29. Januar 2021.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) zukommen lassen.