GI-Radar 299: Informatik und Inklusion

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

in dieser Ausgabe befassen wir uns schwerpunktmäßig mit Informatik und Inklusion. Matthias Haimerl (TH Ingolstadt) und Mark Colley (Universität Ulm) stellen ihre Sicht auf die Entwicklung autonomer Fahrzeuge vor, die das Potenzial zur Förderung der Inklusion haben, aber auch, die Gefahren im Straßenverkehr zu erhöhen. Als Besonderheit gibt es dieses Mal neben dem Thema im Fokus auch weitere Kurzbeiträge zur Inklusion. Abgerundet wird die Ausgabe durch aktuelle Kurzmitteilungen und die GI-Meldungen.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe!

auf gi-radar.de weiterlesen

Quantencomputing + Big Data und Immobilien + digitale Schule + Supercomputer + Emotet + Informatik und Inklusion + Endspurt GI-Wahl + Wearables + Vorteile der Mitgliedschaft + Who counts?

KURZMITTEILUNGEN

Quantencomputer in Bayern (ZEIT). Quantencomputing ist in in vieler Munde und gilt ob der Rechengeschwindigkeit als höchst zukunftsträchtige Technologie. Die Bundesregierung stellt nun zum Bau eines deutschen Quantencomputers 40 Million Euro bereit. Angesiedelt wird der Rechner am Leibniz Rechenzentrum in Garching bei München.  weiterlesen

Wo entsteht das hippste Wohnviertel? Frag Big Data (SZ). Wer sich nicht auskennt in einer Stadt, tut sich mitunter schwer, Wohnviertel einzuschätzen. Mittels der Auswertung unterschiedlichster Daten aus unterschiedlichsten Quellen lassen sich Detailfragen beantworten und Voraussagen über künftige Entwicklungen treffen. Die Immobilienwirtschaft freut sich.  weiterlesen

Corona und die Schulen: das Murmeltier grüßt (FAZ). Irgendwie hatten alle gehofft, dass alles irgendwann in absehbarer Zeit vorbei sein würde: die Coronazahlen und Beschränkungen, Diskussionen über 2G und 3G und über Wechselunterricht und Chancenungleichheit bei Kindern. Nun spitzt sich die Pandemiesituation wieder zu und die Kultusministerkonferenz diskutiert den Stand der Digitalisierung in den Schulen. Erschreckenderweise fallen laut einer Untersuchung der Universität Göttingen knapp zwei Drittel der Schulen beim Thema Digitalisierung in die Kategorien „Durchschnitt“ und „Nachzügler“. Der deutlich kleinere Teil darf sich als „Vorreiter“ oder zumindest „digital orientiert“ ansehen.  weiterlesen

Supercomputer: Liste der Superlative (golem). Früher hat man im Quartett die Leistungsfähigkeit von Autos verglichen, heute steht die Leistung von Supercomputern im Fokus der Aufmerksamkeit. In diesem Monat wurde die aktuelle Liste der 500 leistungsfähigsten Computer der Welt veröffentlicht.  weiterlesen

Emotet ist zurück (Spiegel). Die Schadsoftware Emotet, die im vergangenen Jahr große materielle und organisatorische Schäden verursacht hat, ist wieder aktiv. Sicherheitsfachleute haben festgestellt, dass infizierte Systeme eine neue Datei aus dem Netz laden, die als Emotet identifiziert wurde.  weiterlesen

THEMA IM FOKUS

„Du auch hier?“ – Wenn Menschen mit Einschränkungen auf autonome Fahrzeuge treffen. Selbstfahrende Autos ... Für viele Menschen ist alleine die Vorstellung, einem Fahrzeug ohne Person hinter dem Lenkrad zu begegnen, beängstigend. Selbst wenn Unfälle eher durch menschliche Fahrende ausgelöst werden als durch Sensoren & Algorithmen (Paper 1, Paper 2), ist die Vorstellung, dass eine Maschine genauso gut, geschweige denn besser als ein menschliches Wesen fährt, schwer greifbar. Allerdings sind der technische Fortschritt und die finanziellen Möglichkeiten so verlockend, dass automatisierte Fahrzeuge in den nächsten Jahrzehnten die Straßen wahrscheinlich dominieren werden. Deutschland hat bereits 2021 die juristischen Weichen für fahrerlose Fahrzeug gestellt (FAQ d. Bundesregierung) und offizielle Teststrecken ausgewiesen, wie z.B. die A9 zwischen München und Ingolstadt (Artikel Merkur). Natürlich sind die ethischen, verantwortungstheoretischen und andere Für und Wider-Diskussionen auch für Blockaden im wissenschaftlichen Diskurs verantwortlich: Anstatt konkrete Probleme zu adressieren, ersticken Grundsatzdiskussionen häufig die Ansätze im Keim. Doch unabhängig davon, welcher Stufe an Automatisierung wir künftig auf unseren Straßen begegnen, werden wir über kurz oder lang Kommunikationskonzepte zwischen Fahrzeugen und anderen Straßenteilnehmenden brauchen — also Möglichkeiten des automatisierten Fahrzeugs, den Menschen mitzuteilen, was es vorhat. Dies ist vergleichbar mit Augenkontakt oder Gestik von Fahrerinnen und Fahrern im heutigen Verkehr. Diese Kommunikationskonzepte werden als externale Human-Machine-Interfaces (eHMI), also externe Mensch-Maschine-Schnittstellen, bezeichnet (Paper).

Wo bei der Kommunikation der Fahrzeuge untereinander (Vehicle-2-Vehicle) die verwendeten Protokolle ausschlaggebend sind, sind es bei der Kommunikation mit Menschen die praktisch und praktikabel ansprechbaren Sinne, also akustische, optische und taktile Signalisierung (Paper). Die Entwicklung dieser Konzepte beschreibt die logische Fortsetzung existierender, dynamischer Verkehrssignale wie Ampeln oder Hupen. Der Forschungsbereich der eHMIs ist überraschend groß. Es gibt diverse Arten von Farben, Geräuschen, Mustern, Symbolen, Worten und Akkorden, die in unterschiedlichsten Kombinationen für verschiedenste Szenarien mit verschiedenen Benutzergruppen wie etwa Kindern, älteren Personen oder auch mit Menschen mit Behinderung getestet wurden und werden.

Bereits 2019 haben Colley et al. (Paper) gezeigt, dass die bis dahin vorgestellten Konzepte nicht den Anforderungen des Universal Designs (universaldesign.ie) genügen. Trotz Bemühungen um eine Inklusion der verschiedenen Gruppen von Nutzenden (siehe z.B. Paper 1, Paper 2), liegt der Fokus eines Großteils der wissenschaftlichen Arbeiten weiterhin auf den nicht beeinträchtigten Personen. Das große Problem hierbei ist, dass sich der Verkehr durch automatisierte Fahrzeuge grundlegend verändern wird und dass eHMIs voraussichtlich zumindest bei der Einführung dieser Technologien einen wichtigen Bestandteil des zukünftigen Straßenverkehrs darstellen - wobei sie maßgeblich verantwortlich für das Zusammenspiel von Menschen und Fahrzeugen sein werden. Entwickelt man in der Forschung ausschließlich Lösungen für den „Durchschnittsmenschen“, so schließt man Menschen mit alternativen Fähigkeiten von vornherein aus.

Sämtliche Entwicklungen in der nutzerzentrierten Forschung setzen voraus, dass Nutzende der entsprechenden Zielgruppe selbst an der Entwicklung beteiligt sind (ISO 1340). Durch die immer noch nicht erreichte Inklusion von Menschen mit alternativen Fähigkeiten in die Grundgesellschaft (Deutschlandfunk) sind eben jene Zielgruppen, die so wichtig für die Forschung wären, sehr schwer zu erreichen. Und da in der Forschung Ergebnisse möglichst schnell geliefert werden müssen (Stichwort: „Publish or perish“), bleibt die Barrierefreiheit der meisten Konzepte ein Eintrag im Kapitel „Limitationen“ oder „Ausblick“. Wir sehen die Verantwortung bei den Forschenden, die die Stoßrichtung der neuen Entwicklungen vorgeben, neue Konzepte zu hinterfragen und für alle Menschen zugänglich zu machen. Außerdem sehen wir die Verantwortung auch bei der Industrie, neue Konzepte von vornherein in Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations) zu entwickeln. Zusätzlich sehen wir die Verantwortung auch bei den Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, sich aktiv an der Forschung inklusiver Technologien zu beteiligen. Nur wenn alle Seiten gleichermaßen bereit sind, sich auf das Ziel einer inklusiven Gesellschaft zu verpflichten, wird sich auch die Forschung an den Bedürfnissen von Menschen aller verschiedener Fähigkeiten ausrichten.

Dieses Thema im Fokus haben Matthias Haimerl (TH Ingolstadt) und Mark Colley (Universität Ulm) beigesteuert. Vielen Dank!

KURZBEITRÄGE ZUR INKLUSION

Weil Inklusion so wichtig ist, gibt es neben dem Thema im Fokus in dieser Ausgabe noch thematisch passende Kurzmitteilungen.

Wenn Maschinen miteinander sprechen. Kommerzielle Sprachassistenten unterstützen bereits viele Merkmale der Barrierefreiheit wie z.B. Untertitel, und sind per se für sehschwache Menschen und Menschen mit einer Körperbehinderung leicht bedienbar. Wenn man stottert, autistisch oder lernbehindert ist, versagen Sprachassistenten oft. Salai, Cook und Holmquist (springer.com, leider nur hinter einer Paywall verfügbar) fanden heraus, dass man besser den eigenen Sprachassistenten damit beauftragt, mit einem anderen Sprachassistenten komplexe Dialoge zu führen. Damit kann man nicht nur Probleme des Datenschutzes lösen, sondern auch die Verständlichkeit des eigenen Sprachassistenten durch Personalisierung verbessern. Diese Arbeit wurde mit dem Accessibility Award der Tagung INTERACT 2021 ausgezeichnet.

Erkennung von Gebäudemerkmalen der Barrierefreiheit mit KI. Im AccessibleMaps-Projekt (accessiblemaps.de) arbeiten die Technische Universität Dresden und das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) an Lösungen für die Verbesserung der Zugänglichkeit von Gebäuden, indem für Menschen mit einer Seh- oder Mobilitätsbeeinträchtigung relevante Karteninformationen gesammelt und in OpenStreetMap zur Verfügung gestellt werden. In einem Teilprojekt wird am KIT erforscht, wie mit Hilfe einer in eine Brille integrierte Kamera oder einem kleinen LIDAR-System Szenen in einem Gebäude erkannt werden können. Die auf Deep Learning beruhenden Auswertungsverfahren erkennen Objekte wie beispielsweise Treppen, Türen, Boden, Freiflächen, Wände, Inneneinrichtungsgegenstände oder Toiletten (Paper 1, Paper 2).

KI, Ethik und Inklusion. Das KI.ASSIST-Projekt hat eine Arbeitsgruppe „Ethik, KI & Menschen mit Behinderung“ (ki-assist.de) ins Leben gerufen. In dieser Gruppe wird untersucht, inwiefern und unter welchen Bedingungen KI-basierte Assistenzsysteme Menschen mit Behinderung bei der Teilhabe am Arbeitsleben unterstützen. Im Fokus stehen ethische Fragestellungen u.a. zu Chancen, Risiken und Grenzen der Künstlichen Intelligenz. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe werden in einem Bericht im März 2022 auf der Homepage veröffentlicht. Kurze Berichte der bisherigen Sitzungen sind auf der Webseite der Arbeitsgruppe zu finden (ki-assist.de).

Barrierefreiheit und Homepages. Die Zahl der Barrieren in Homepages sank von Februar 2020 (60,9 Fehler im Mittel) bis Februar 2021 (51,4 Fehler im Mittel) um 15,6%. Jeweils im Februar 2019, 2020, und 2021 hat WebAIM (webaim.org) die Barrierefreiheit von einer Million Homepages automatisiert auf Barrierefreiheit geprüft und die Fehler ermittelt, die sich auf Benutzende mit einer Behinderung auswirken. 96,7% der Fehler lassen sich sechs Kategorien zuordnen: Auf Platz 1 ist unangefochten der zu geringe Kontrast der geprüften Webseiten.

Vorlagen und Broschüren. Detaillierte Broschüren und übersichtliche Flyer zur Erstellung und Prüfung der Barrierefreiheit von Word-, PowerPoint- und InDesign-Dateien sind barrierefrei auf Deutsch und Englisch als PDF bei der TU Dresden verfügbar (tu-dresden.de).

GI-MELDUNGEN

Endspurt zur Vorstands- und Präsidiumswahl. Noch genau 14 Tage haben Sie die Möglichkeit, über die Zusammensetzung des GI-Präsidiums mitzuentscheiden und Ihre Präferenzen bei der Wahl zum neuen Vorstand kundzutun. Sechs Engagierte bewerben sich um drei Plätze im Präsidium, und die Kandidatinnen und Kandidaten für den Vorstand stellen Ihnen ihre geplanten Arbeitsschwerpunkte vor. Derzeit liegt die Wahlbeteiligung bei gut 15%. Es ist also noch alles offen. Am 3. Dezember um 12 Uhr endet die Wahl.  weiterlesen

Tragbare Computersysteme, freie Entscheidung und Moral: eine Betrachtung. Tragbare Computersysteme (sogenannte „wearables“) begleiten uns mittlerweile sehr häufig im Alltag. Ein verbreitetes System ist beispielsweise der Schrittzähler, der mittlerweile einfach ganz selbstverständlich mitläuft. Es stellt sich die Frage, inwieweit wir uns davon beeinflussen lassen und wie frei wir noch sind oder uns fühlen.  weiterlesen

Handfeste Vorteile der GI-Mitgliedschaft. Dass man in der GI hervorragend Netzwerke knüpfen kann, wissen Sie wahrscheinlich. Auch dass Sie auf Konferenzen veröffentlichen können, in Regionalgruppen praxisrelevante Vorträge hören und in den Fachgruppen mitmischen können, wahrscheinlich auch. Aber wissen Sie auch, dass Sie über die GI Sonderkonditionen bei Mietwagen, Hotels und in der Bahn bekommen? Von fachrelevanten Zeitschriften natürlich ganz zu schweigen. Schauen Sie rein in unsere Vorteile.  weiterlesen

Kennen Sie eigentlich den GI-Pressespiegel? Dort sammeln wir die Berichterstattung über unsere Fachgesellschaft in Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträgen. In dieser Woche berichtet unter anderem Netzpolitik über den PAK Datenschutz und IT-Sicherheit, der sich gegen die anlasslose Chatprotokollierung ausgesprochen hat, und der Deutschlandfunk zitiert GI-Präsident Hannes Federrath zum Bau und Einsatz autonomer Waffen. Schauen Sie rein, es gibt da immer wieder Neues.

FUNDSTÜCK

Who counts? Prof. Jutta Treviranus berichtet, dass sie in Toronto die Gelegenheit hatte, zu untersuchen, wie autonome Fahrzeuge mit Menschen im Rollstuhl zurechtkommen. Sie fand heraus, dass KI Vorurteile gegenüber Menschen mit einer Behinderung verstärkt. Alice, die im Rollstuhl sitzt, aber sich wegen gelähmter Arme nur mit den Füßen langsam bewegt, wurde in Simulationen recht sicher überfahren. nach einer Neumodellierung waren sich die getesteten Algorithmen sogar noch sicherer, dass das das bestmögliche Fahrmaneuver sei.  Zum Fundstück (youtube.com, engl.)

Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!

 

Dies war Ausgabe 299 des GI-Radars. Zusammengestellt wurde sie von Dominik Herrmann, der sich keinen Quantencomputer wünscht, sondern einfach einen Computer, der macht was er soll – das wär' doch was! Den Schwerpunkt dieser Ausgabe hat Prof. Gerhard Weber zusammengestellt, Sprecher der Fachgruppe „Informatik und Inklusion“, die in den Fachbereichen „Informatik und Gesellschaft“ sowie „Mensch-Computer Interaktion“ verankert ist. Unterstützt hat ihn dabei Dr. Karin Müller (KIT). GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter hat die übrigen Mitteilungen und Meldungen zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 3. Dezember 2021.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) zukommen lassen.