GI-Radar 303: VR-Therapie

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

über die Weiterentwicklung der Telepräsenz geht es dieses Mal in den Kurzmitteilungen. Auch im Thema im Fokus befassen sich die Kolleginnen und Kollegen von SocIeTy mit Virtueller Realität. Auf den neuen GI-Arbeitskreis zu Open-Source-Software weisen wir in den GI-Meldungen hin. Das Fundstück zeigt anschaulich, wie viel man anhand von Daten über Menschen erfahren kann.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe!

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Digitale Polizeistreife + automatisierte Arbeit + Telepräsenz + Gesundheitssystem + Überwachungsgesamtrechnung + VR-Therapie + AK Open Source Software + Digital Autonomy Award + Arbeitspapier ExamAI + Datenrecherche

KURZMITTEILUNGEN

Polizeistreife im Netz oder digitale Generalprävention (ZEIT). Warum gehen Sie bei rot nicht über die Straße, selbst wenn gerade kein Polizeiauto zu sehen ist? Richtig, es könnte eine Strafe drohen. Im Netz allerdings ist es deutlich unwahrscheinlicher, bei Verstößen erwischt zu werden. Nicht nur deshalb wird hier weitaus hemmungsloser gegen Regularien verstoßen. Deshalb fordert der Leiter der Cyberkriminologie an der Hochschule Brandenburg mehr polizeiliche Präsenz im Netz.  weiterlesen

Substituierbarkeit der Arbeit: das Programm erledigt die Arbeit (FAZ). Im Web kursiert die Geschichte eines IT-Fachmannes, dessen Computerprogramm seit geraumer Zeit seine Arbeit erledigt. Der Arbeitgeber scheint nichts zu merken, die Arbeit wird getan. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nennt das „Substituierung“ und geht davon aus, dass zunehmend auch komplexe Tätigkeiten automatisiert werden können.  weiterlesen

Kaffeetrinken mit der Großmutter in der Ferne: Telepräsenz als reales Miteinander (NZZ). Das Weihnachtsessen mit der ganzen Familie via Videokonferenz: vor der Corona-Pandemie waren solche Szenarien allenfalls für Techies interessant. Bei manchen Menschen ist die Familienfeier über den Rechner nun der Normalzustand, und auch Treffen im beruflichen Kontext finden derzeit nahezu ausschließlich virtuell statt. Aber vielen fehlt nach wie vor das Gefühl des Miteinanders. Mit dreidimensionaler Telepräsenz soll es sich künftig so anfühlen, als säße man tatsächlich bei der Großmutter auf dem Sofa.  weiterlesen

Expertenrat und Wikimedia fordern Digitalisierung des Gesundheitssystems (Golem). Der Expertenrat der Bundesregierung zu Covid-19 bemängelt die unvollständige und zeitverzögerte Auswertung der Pandemiedaten und fordert eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens. Mittels der elektronischen Patientenakte solle es möglich sein, einen systematischen Überblick über Impfung, Fallzahlen und Krankenhausbelegung zu bekommen, wie dies in anderen Ländern bereits umgesetzt werde.  weiterlesen

Überwachungsgesamtrechnung: wie Datenabfragen durch den Staat gestiegen sind (Handelsblatt). Das Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht hat zusammengestellt, wie sich die Datenabfragen in den letzten Jahren entwickelt haben. Das Institut hat zusammengetragen, wie die Abfragen bezüglich der Konto- und Telekommunikationsdaten rasant gestiegen sind. Aber auch andere Felder werden zunehmend abgefragt.  weiterlesen

THEMA IM FOKUS

Der innere Freu(n)d, Virtuelle Realität für den Perspektivenwechsel. Sich selbst als Therapeut:in gegenübersitzen, ist laut Wissenschaftler:innen der University of Barcelona ein vielversprechender Ansatz, um bestehende Therapieformen künftig erfolgreich zu erweitern. Im Rahmen einer Studie untersuchten Osimo et al., inwieweit mit Hilfe von Virtual Reality (VR) ein Perspektivenwechsel im Rahmen eines Selbstgesprächs Auswirkungen auf die Stimmungslage von Proband:innen haben kann (nature.com).

Dabei nahmen die Teilnehmer:innen im Wechsel zwei virtuelle Körper an – einmal einen Avatar ihres eigenen Körpers und einmal den Avatar von Sigmund Freud. Sie wurden gebeten, während sie ihren eigenen Avatar verkörperten, ihrem Gegenüber ein persönliches Problem zu schildern, über das sie gerne sprechen würden. Im Anschluss wechselten sie die Perspektive, sodass sie nun aus Sicht des virtuellen Sigmund Freud ihren eigenen Avatar sehen konnten und Mimik, Gestik, sowie die Tonspur des geschilderten Problems wurden noch einmal abgespielt. Daraufhin sollten sie ihrem virtuellen Selbst Ratschläge und Bewältigungsstrategien zur Lösung des Problems geben. Das Gesprochene wurde dann, nach einem erneuten Wechsel, mit einer künstlich veränderten Stimme noch einmal wiedergegeben. Diese Prozedur wurde so lange wiederholt, bis der/die Teilnehmer:in sich dazu entschied, aufzuhören. Im Wesentlichen wurden zwei Erkenntnisse herausgestellt:

Erstens, das Selbstgespräch in Verbindung mit einem Wechsel der Perspektive führte zu einer Besserung der Stimmungslage und allgemeinen Zufriedenheit.

Zweitens, der Effekt dabei war signifikant größer mit Sigmund Freud als Avatar der therapeutischen Perspektive. (In einem alternativen Setting nahmen die Teilnehmer:innen in beiden Perspektiven die Gestalt ihres eigenen Avatars an.)

Da die Proband:innen gebeten wurden, über leichte bis mittelschwere Probleme zu berichten und Kandidat:innen mit traumatischen Erlebnissen von der Studie ausgeschlossen waren, ist noch fraglich, inwieweit die Ergebnisse für schwerwiegendere klinische Krankheitsbilder übertragbar sind. Weiterhin bleibt unklar, ob es bei dem Avatar des Therapeuten eine Rolle spielt, um welchen Charakter es sich handelt. Die Autor:innen argumentieren jedoch, dass aufgrund möglicher Assoziationen mit dem dargestellten Charakter ein Mindestmaß an Vertrauen in dessen Kompetenz von Bedeutung ist.

Bereits eingesetzt wird VR im Bereich der Konfrontationstherapie (mixed.de). Konfrontations- bzw. Expositionstherapie ist im Allgemeinen eine Methode aus der Verhaltenstherapie, die oft bei Angststörungen, insbesondere Phobien, zum Einsatz kommt. Hierbei wird die betroffene Person unter psychotherapeutischer Begleitung und mit vorausgegangener entsprechender Vorbereitung mit den für sie angstauslösenden Reizen konfrontiert. Die Methode verfolgt den Ansatz, dass Betroffene durch die reale Erfahrung der Konfrontation ihre Angst verlernen können, indem sie in der angstauslösenden Situation verharren, anstatt ihr auszuweichen. Im Anschluss an die Exposition wird die Diskrepanz zwischen den zuvor festgehaltenen Ängsten und dem tatsächlich Geschehenen im Rahmen der therapeutischen Sitzung reflektiert. Hierbei wird das mentale Weltbild der Patient:innen durch Reflexion der Fakten aktiv in Frage gestellt (wikipedia.org).

Studien konnten bereits belegen, dass Konfrontationstherapien in VR wirksam sind, obwohl Patient:innen wissen, dass die Situationen nicht real sind (researchgate.net). Angstauslösende Umgebungen können mithilfe von VR kosteneffizient und mit geringem Aufwand simuliert werden. Zudem stellen sie einen niedrigschwelligen Einstieg für Patient:innen in die Konfrontationstherapie dar (archive.org). In einem Beitrag von 2019 spricht Psychotherapeut Felix Eschenburg von seinen Erfahrungen mit dem Einsatz von VR in der Verhaltenstherapie. Patient:innen können sich eher auf die Konfrontation in der nicht-realen virtuellen Welt einlassen, als beispielsweise echte Spinnen in die Hand zu nehmen. Es werden auditive und visuelle Stimuli eingesetzt, die die Angst bei Betroffenen auslösen, sodass sie einen Umgang mit ihnen lernen können, ohne sich ihnen in realen Umgebungen aussetzen zu müssen (mixed.de, hinter Paywall).

Das Verkörpern eines Avatars in der virtuellen Realität kann unterschiedliche positive Effekte haben. Für die Identifikation mit dem virtuellen Selbst spielt es in der Regel keine Rolle, ob der Avatar den Teilnehmenden ähnlich sieht oder völlig andere Merkmale (Hautfarbe, Gewicht, Größe, [...]), aufweist: Es fühlt sich an, als wäre es der eigene Körper. Lediglich fehlende Synchronität zwischen Avatar und Nutzer:in schränkt die Verbundenheit ein. 

So zeigen Banakou et al., dass die Nutzung eines schwarzen Avatars bei weißen Teilnehmenden zu einer Reduktion der impliziten rassistischen Voreingenommenheit (implicit racial bias) führt, die sogar eine Woche später noch bestehen bleibt (nih.gov). Diesen Effekt machen sich auch im deutschsprachigen Raum Projekte wie „AugenBLICK mal!” (gemeinsam-bruecken-bauen.de) und „VRZ360 – Die Antirassismus-Brille” (vielrespektzentrum.de) zunutze und ermöglichen es Bürger:innen, den Perspektivenwechsel am eigenen Leib zu erfahren.

Auch im Fall von häuslicher Gewalt gegen Frauen führte der Einsatz von VR zu einer wesentlichen Wahrnehmungsanpassung bei Straftäter:innen. Es wurde gezeigt, dass diese im Vergleich zur Kontrollgruppe häufig Probleme haben, Emotionen korrekt einzuschätzen. So wurden beispielsweise häufig ängstliche Frauengesichter als glücklich deklariert. Durch das Erleben einer Situation von häuslicher Gewalt in der virtuellen Realität, bei dem die Straftäter einen weiblichen Avatar und die Rolle des Opfers erhielten, konnte diese Wahrnehmung verbessert werden (nature.com).

Virtuelle Realität kann jedoch nicht ausschließlich dazu genutzt werden schlechte Eigenschaften abzumildern, sondern auch dazu, die eigene Leistung zu steigern. Durch das Verkörpern von Einstein, der dafür als Avatar konzipiert wurde, konnte die kognitive Leistung (cognitive task performance) verbessert werden. Der Effekt ist umso stärker, wenn das Selbstvertrauen der Nutzer:innen verhältnismäßig niedrig ist (frontiersin.org).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass VR nicht nur für Spielereien nutzbar ist. Auch in Bereichen, die bisher nur wenig mit VR in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel der Psychotherapie, gibt es eine Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten. Diese bieten die Gelegenheit, neue Therapieformen zu schaffen und bestehende zu erweitern. Positiv lässt sich außerdem der kostengünstige und niedrigschwellige Zugang hervorheben, der dabei helfen könnte, die gesellschaftliche Akzeptanz von Therapien weiter zu fördern.

Dieser Überblick wurde verfasst von Yasmina Adams, Sarah Groos und Johannes Korz aus der Redaktionsgruppe „SocIeTy“. Da sowohl gesellschaftlich als auch politisch insbesondere im Rahmen der Verwendung neuer Technologien immer wieder Diskussionsbedarf entsteht, freuen wir uns, gemeinsam einen Diskurs zu genau solchen Themen zu gestalten. Verlinken (und folgen) Sie uns gerne auf Twitter unter @society_read. Sie erreichen uns außerdem unter redaktion.sozioinformatik@cs.uni-kl.de.

GI-MELDUNGEN

Neuer Arbeitskreis zu Open-Source-Software gegründet. Open Source ist für viele das Mittel der Wahl, um Monopole zu umgehen und Transparenz zu schaffen. Nicht immer kann dieses Versprechen gehalten werden, wie im letzten Radar ausgeführt. Dennoch bietet Open Source große Chancen und erobert immer mehr Geschäftsfelder. Ein neu gegründeter Arbeitskreis will sich all dieser Facetten annehmen, ein Netzwerk schaffen, informieren und beraten. Interessierte sind herzlich willkommen.  weiterlesen

Digital Autonomy Award: Jetzt den besten Vorschlag küren! Das Digital Autonomy Hub hat in den letzten Monaten kreative Lösungen eingesammelt, die den Menschen einen reflektierten und selbstbestimmten Umgang mit ihren Daten, Geräten und Anwendungen ermöglichen sollen. Von allen Einreichungen haben es zehn Projekte in die engere Auswahl geschafft, über die bis zum 8. Februar abgestimmt werden kann.  weiterlesen

Arbeitspapier zur europäischen KI-Verordnung veröffentlicht. Das GI-Projekt ExamAI hat ein Arbeitspapier zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt veröffentlicht. In dem Papier geht es zum einen um den verantwortungsbewussten Einsatz von KI-Technologien in der Arbeitswelt, verbunden mit Anforderungen zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zum anderen geht es um das Innovationspotenzial und fehlende Prüfmethoden. weiterlesen

 

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FUNDSTÜCK

Wer bin ich? Wo stehe ich? Wofür kann ich gehalten werden? Eine Datenrecherche in eigener Sache (NZZ). Theoretisch wissen wir alle, dass – Vorsicht, Platitude! – das Netz nie vergisst. Dennoch dürften die meisten Menschen relativ unbedarft im Internet surfen, einkaufen, plaudern und posten. Anhand zweier Beispiele zeichnet ein Experiment plastisch nach, was man im Netz über eine bestimmte Person herausfindet, welche Rückschlüsse sich daraus ziehen lassen und was das bedeuten könnte. Hätten Sie das so detailliert gewusst?  Zum Fundstück (nzz.ch)

Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!

 

Dies war Ausgabe 303 des GI-Radars. Zusammengestellt hat sie Dominik Herrmann während der gerade stattfindenden GI-Präsidiumssitzung – natürlich nur in den Pausen. GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter hat die Mitteilungen und Meldungen zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 11. Februar 2022.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) zukommen lassen.