GI-Radar 235: Computational Social Science

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

unser heutiges Thema im Fokus sind aktuelle Entwicklungen rund um den Einsatz rechnergestützter Methoden in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dieses auch als Computational Social Science bezeichnete Forschungsgebiet an der Schnittstelle zwischen Informatik und Sozialwissenschaften gewinnt dank immer ausgefeilterer Datenanalyse- und Simulationsverfahren zunehmend an Bedeutung in Wissenschaft und Gesellschaft – und lässt aktuell den Methodenstreit in der deutschsprachigen Soziologie der 1960er Jahre wiederaufflammen.

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Europas fehlende Souveränität + Social-Media-Profile nach dem Tod + Datenschutzregelungen in den USA + Verbrechenaufklärung durch Mustererkennung + gedruckte Implantate + souveräne Öffentlichkeit + Computational Social Science + Tracks auf der INFORMATIK 2019 + ILW-Förderpreis + Dissertation zu Datenbanken ausgezeichnet + Mitmachen im GI-Präsidium? + Perspektiven zur Zukunft der Informatik

KURZMITTEILUNGEN

Europa muss im digitalen Raum souverän bleiben (Chrismon). In einem Plädoyer setzt sich der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm dafür ein, eine eigene digitale Infrastruktur in Europa zu schaffen. Indem Europa der Konzentration durch US-amerikanische Unternehmen zusieht und sich dessen Algorithmen unterwirft, verliert es nach und nach seine Souveränität.  weiterlesen

Unsterblichkeit im Netz: der Umgang mit Social-Media-Profilen nach dem Tod (taz, 8 min). Nach dem Ableben wird der Angehörige bestattet. Aber was passiert mit dem digitalen Nachlass? Wer hat Zugriff, wer kann und darf sich darum kümmern? Hier sind die meisten Hinterbliebenen überfordert. Deshalb etablieren sich Bestattungsunternehmen für Digitales.  weiterlesen

Datenschutz in den USA (NZZ). Lange war der Datenschutz in den USA vermeintlich oder tatsächlich kein großes Thema. Doch nach verschiedenen Skandalen scheint sich auch hier die Wahrnehmung zu wandeln; die Politiker werden aufmerksam und beginnen zu diskutieren.  weiterlesen

Mustererkennung bei Verbrechen (Handelsblatt). In New York hat die Polizei eine Software entwickelt, mit der spezifische Muster von Verbrechen analysiert werden können. So lässt sich abgleichen, ob ähnliche Muster an einem anderen Ort oder in einem anderen Zusammenhang schon einmal aufgetaucht sind.  weiterlesen

Ohr aus dem Drucker (FAZ). Mangels Organspende-Willigen träumt die Medizin schon lange davon, Organe herstellen zu können. Nun ist es Forschern aus Südafrika gelungen, eine Mittelohr-Prothese am 3D-Drucker herzustellen und zu implantieren.  weiterlesen

Wehret der Abschottung. Ein Plädoyer für eine souveräne Öffentlichkeit, in der man (dem) Fremden begegnet (SZ). Abschottung und Filterblase begünstigen Hysterie. Öffentlichkeit begünstigt (im besten Fall) Austausch und das Hinterfragen der eigenen Weltsicht. Soziale Netzwerke werden jedoch immer mehr zu privaten „Wohnzimmern“, in denen man sich ausschließlich mit seinesgleichen trifft, und auch nur noch die eigenen Meinungen zu lesen bekommt. Ist das wünschenswert? Ein Plädoyer für einen öffentlich-rechtlichen Raum, in dem alle Bürgerinnen und Bürger aufeinander treffen können.  weiterlesen

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THEMA IM FOKUS

Computational Social Science bezeichnet die Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene mit Methoden der Informatik. Hierzu gehören insbesondere Data Science, Machine Learning und Simulationsverfahren, die bei der quantitativen Analyse menschlichen Verhaltens eine wichtige Rolle spielen können (GI Publikation, 4 min). Aber nicht nur die Informatik ist für die empirische Sozialforschung von zunehmender Bedeutung. Auch die statistische Physik beschäftigt sich bereits lange mit der Modellierung kollektiven Verhaltens in menschlichen Gesellschaften (Physics Today, engl., 12 min). Die Kombination solch interdisziplinärer Methoden mit neuartigen Datenquellen, bspw. massenhafte digitale Spuren menschlichen Verhaltens in sozialen Medien oder Smartphone-gestützte empirische Studien, bietet faszinierende Möglichkeiten zum Testen sozialwissenschaftlicher Theorien und Hypothesen und zur Ableitung von Wirkmechanismen, die sich bislang einer quantitativen Überprüfung entzogen haben. Zudem können sie bei der Untersuchung und Behandlung von psychischen Störungen wie Depression helfen (FAZ, 5 min).

Doch wie weit verbreitet sind Informatikmethoden in den Sozialwissenschaften heute? Eine Reihe namhafter Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler ist der Ansicht, dass die Öffnung ihrer Disziplin für solche neuen Forschungsansätze nicht schnell genug voranschreitet. Einen Aufruf, die Sozialwissenschaften diesbezüglich „wachzurütteln“ hat der Soziologe Nicholas A. Christakis bereits 2013 gestartet (New York Times, engl., 3 min). Einen ähnlich lautenden Appell hat der Schweizer Soziologe Andreas Diekmann im Jahr 2016 an seine deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen gerichtet (Süddeutsche Zeitung, 4 min). Er kritisiert unter anderem, dass Informatikmethoden sowohl in Soziologie-Curricula wie auch in den Gremien und Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie nach wie vor unterrepräsentiert sind.

Nicht einmal ein Jahr später unterstützen mehr als 100 deutschsprachige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Aufruf zur Gründung einer neuen soziologischen Fachgesellschaft (Gründungsaufruf, 8 min), welche Informatikmethoden zum Grundinventar ihres wissenschaftlichen „Handwerkszeugs“ zählt. Die im Jahr 2017 daraus hervorgegangene Akademie für Soziologie – und insbesondere deren Anerkennung als Fachgesellschaft für den Fachbereich Empirische Sozialforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft – hat einen Streit zwischen qualitativ und quantitativ arbeitenden Soziologinnen und Soziologen entfacht, der in der FAZ vor kurzem mit dem Brexit verglichen wurde (FAZ, 6 min).

Wie auch immer man zum aktuellen Methodenstreit innerhalb der (deutschsprachigen) Soziologie steht: Unbestritten bringt die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche Herausforderungen mit sich, denen sich sowohl die Sozialwissenschaften wie auch die Informatik stellen müssen. So haben Computational Social Scientists aus München kürzlich aufgezeigt mit welchen Problemen die Nutzung von Social Media Daten für sozialwissenschaftliche Studien einhergehen kann. Konkret zeigen sie, dass die Datenschnittstellen von Plattformen wie Twitter Blackboxes sind, deren Implementierungsdetails nicht nur die Ergebnisse von Big Data Studien verzerren sondern auch für gezielte Manipulationen missbraucht werden können. (EPJ Data Science, 40 min).

Der schwierige Zugriff auf die Datenbestände großer Plattformen wie Twitter, Facebook und Google mündete kürzlich in der Initiative Social Science One, welche eine Partnerschaft zwischen sozialwissenschaftlicher Forschung und Unternehmen propagiert. Einerseits ist es begrüßenswert, wenn persönliche Daten – mit denen wir Nutzer die großen Plattformbetreiber ja de facto für ihre Dienste bezahlen – nicht nur für kommerzielle Interessen, sondern auch zum Wohl der Allgemeinheit genutzt werden. Andererseits hat der Cambridge Analytica Skandal unlängst bewiesen, dass eine Partnerschaft zwischen Computational Social Scientists und Unternehmen auch seine Schattenseiten hat (Tagesanzeiger, 13 min).

Klar ist, dass die Digitalisierung sowohl Chancen wie auch Herausforderungen für die sozialwissenschaftliche Forschung birgt. Aber auch für uns Informatikerinnen und Informatiker ist die Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften von wachsender Bedeutung. Computational Social Science kann uns helfen, die Wechselwirkung von Informatiksystemen und Gesellschaft zu analysieren und zu modellieren, und diese bereits im Entwurf eines Systems zu berücksichtigen. Wie wichtig dies ist, zeigt aktuell das Beispiel von Youtube, welches nach anhaltender Kritik seine Empfehlungsalgorithmen überarbeiten musste (FAZ, 5 min). Ebenso bedeutsam ist Computational Social Science für das Verständnis gesellschaftlicher Phänomene, welche sich implizit in Trainingsdaten für Machine Learning Methoden manifestieren und handfeste Folgen für den Entwurf von Informatiksystemen haben (Google Blog, 15 min). Die Zeiten, in denen solche Systeme losgelöst von Modellen gesellschaftlicher Phänomene entwickelt werden konnten, sind jedenfalls vorbei. Die Informatik wird sich gegenüber Computational Social Science daher ebenso positionieren müssen wie die Sozialwissenschaften, zum Wohle unserer Disziplin und der Allgemeinheit.

Dieser Beitrag wurde verfasst von Ingo Scholtes und Markus Strohmaier, Gründungsvorsitzende des Arbeitskreises Computational Social Science im GI-Fachbereich Informatik und Gesellschaft. Mehr Informationen zum Arbeitskreis gibt es unter https://fb-iug.gi.de/arbeitskreise/computational-social-science/

GI-MELDUNGEN

INFORMATIK 2019 im Track-Format: Einreichungsfrist bis zum 19. April. Mit den Tracks der INFORMATIK 2019 bilden die Veranstalter aktuelle Themen ab und bündeln so Forschungsergebnisse und Praxisbeiträge zu „Socio-technical Design and Value Orientation“, „Data Science“, „Informatik mit Recht“, „Digitale Bildung“, „Internet of Everything“, „Digitalisierung des Energiesystems“ und „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Korrektheit“. Zu den genannten Themen können noch bis zum 12. April Beiträge registriert werden. Einreichungsschluss ist der 19. April.  weiterlesen

ILW-Förderpreis. Der Fachbereich „Informatik in den Lebenswissenschaften“ schreibt einen Förderpreis aus, mit dem besondere Arbeiten aus dem genannten Feld prämiert werden. Der Preis ist mit 1000 Euro dotiert. Einreichungen sind bis Ende Mai möglich.  weiterlesen

Dissertationspreis des GI-Fachbereichs Datenbanken und Informationssysteme. Der GI-Fachbereich DBIS hat eine besonders interessante Dissertation ausgezeichnet. Der Kaiserslauterner Informatiker Caetano Sauer hat ein neues Verfahren zur Reparatur von Datenbanken entwickelt und wurde dafür von dem Preisträger der Konrad-Zuse-Medaille, Theo Härder, gewürdigt.  weiterlesen

Lust, Teil des GI-Präsidiums zu werden? Das GI-Präsidium bestimmt die Leitlinien der GI-Arbeit, entscheidet über die Nutzung von Social-Media-Präsenzen, erarbeitet Curricula, denkt über Informatik-Positionen nach, die der Gesellschaft nützen und vernetzt nebenbei Informatikerinnen und Informatiker aller Richtungen. Haben Sie Lust, hier dabei zu sein? Dann bewerben Sie sich.  weiterlesen

FUNDSTÜCK

Zwei Perspektiven zur Zukunft der Informatik. Passend zum Thema im Fokus macht sich der niederländische Informatiker Maarten van Steen im heutigen Fundstück Gedanken zur Zukunft der Informatik im Dialog mit anderen Disziplinen. Sein Video verdeutlicht anschaulich, dass die Frage ob und wie wir uns als Disziplin gegenüber neuen Themen wie bspw. Computational Social Science oder Digital Humanities positionieren die zukünftige Bedeutung der Informatik in Wissenschaft und Gesellschaft maßgeblich beeinflusst.   Zur Webseite (youtube.com, engl., 7 min)

Dieses Fundstück hat Ingo Scholtes vorgeschlagen. Vielen Dank! Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!

 

Dies war Ausgabe 235 des GI-Radars. Zusammengestellt hat sie Dominik Herrmann, der aus eigener Erfahrung bestätigen kann, dass man im GI-Präsidium tatsächlich etwas bewegen kann. Die GI-Mitteilungen hat wie immer GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 5. April 2019.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) oder Facebook zukommen lassen.